Der Gute Ton

 

    Im Eisenbahnwagen finden sich Leute aus allen Gesellschaftsklassen zusammen, darunter auch so manche, die nicht wissen, was sich schickt, und denen man es nicht übelnehmen kann, wenn sie Verstöße gegen die gute Lebensart begehen, da sie dieselbe nicht verstehen. Da gibt es Leute, die, wenn sie das Coupé betreten, ohne ein Wort zu verlieren sofort die geschlossenen Ventilationsklappen und das Fenster öffnen  oder umgekehrt die geöffneten schließen, als ob sie hier allein anzuordnen hätten. Wem bei dem Betreten eines Eisenbahnwagens das geöffnete oder geschlossene Fenster aus irgend einem Grunde zuwider sein sollte, der hat durchaus nicht das Recht, dasselbe ohne weiteres zu schließen oder zu öffnen, sondern er hat sich mit einer dahinzielenden Frage an die bereits Anwesenden zu wenden. Auf ein höfliches: "Gestatten die Herrschaften, daß ich u. s. w." wird er ja, wenn in der Tat kein Grund vorliegt, seiner Höflichkeit entsprechend die Zustimmung der Mitreisenden erhalten, oder er wird hören, daß ein bestimmter Grund vorhanden ist, das Fenster offen oder geschlossen zu halten, und er hat sich dann einfach der Mehrheit zu fügen und seine eigenmächtige Handlung zu unterlassen. Übrigens existiert eine Vorschrift, nach welcher das Fenster auf der Windseite, d. h. auf der Seite, von welcher der Wind kommt und unangenehm in das Fenster hineinbläst, geschlossen zu halten ist; dies zu verlangen hat jeder Reisende das Recht.

 

    Ungehörigkeiten mancherlei Art machen sich auch bei dem Einnehmen der Plätze bemerkbar. Wer in einen Eisenbahnwagen steigt und den Abteil leer findet, darf sich selbstverständlich auf dem ihm bequemsten erscheinenden Platz einrichten, wie es ihm beliebt. Je mehr das Coupé sich füllt, desto beschränkter wird die Wahl, desto mehr hat sich einer nach dem anderen zu richten. Niemand hat mehr Platz zu beanspruchen, als ihm nach der für den Raum berechneten Anzahl der Reisenden zukommt, für seine Person sowohl wie für sein Handgepäck. Man nimmt bescheiden den noch freien Platz ein, ohne sich wie ein Keil gewaltsam zwischen die schon Sitzenden zu drängen oder deren Gepäck rücksichtslos zur Seite zu schieben, um Raum für das eigene zu schaffen. Mit einer freundlichen Bitte und höflichen Entschuldigung kommt man stets am weitesten; man hat dann nie zu gewärtigen, auf sich das Sprichwort in Anwendung gebracht zu fühlen: auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.

 

    Wer einen Platz eingenommen hat, der bleibe sitzen; sollte er denselben aber aus irgend einem zwingenden Grunde noch einmal verlassen müssen, so hat er ihn mit irgend einem Stück Handgepäck zu belegen. Das ist für jeden neu einsteigenden Reisenden das Zeichen, daß dieser Platz bereits besetzt ist. Es wäre eine Ungeschliffenheit sondergleichen, wenn jemand das daliegende Gepäckstück fortnehmen, in das Netz legen und sich selbst auf diesen Platz setzen wollte; er hat diesen auch zu räumen, wenn der zurückkehrende Passagier dagegen Einspruch erhebt. Sich weigern, den Platz zu verlassen, kann er nur dann, wenn derselbe unbelegt gelassen worden ist, denn damit hat der ausgestiegene Passagier sein Recht daran vergeben, und er darf sich nicht beklagen, wenn der andere den Sitz nicht gutwillig wieder räumt. Ein daraus gewöhnlich sich entspinnender Wortwechsel hat seinen Zweck, denn der zweite Reisende ist kein unbefugter Eindringling, sondern er besteht nur auf seinem Recht, was ihm auch von dem Schaffner bestätigt werden muß, da der Platz unbesetzt und unbelegt gefunden worden ist.

 

    Mehr als eine Ungehörigkeit, geradezu eine Ungezogenheit ist es, wenn Leute, die im Coupé sitzen, bei stärkerem Andrang einen leeren Platz mit einem eigenen Gepäckstück belegen, um den Schein zu erwecken, als sei dieser Platz besetzt und nur augenblicklich von dem Inhaber noch einmal verlassen worden. Es geschieht, um andere Reisende abzuhalten, sich niederzulassen, damit sie es sich dann während der Fahrt möglichst bequem machen können. Es ist nicht zu verwundern, wenn der so Abgefertigte zunächst ruhig abwartet, ob sich die Behauptung bewahrheiten wird, dann aber, wenn sich der angebliche Inhaber nicht einfindet, gleiches mit gleichem vergilt und nun rücksichtslos auf seinem Recht besteht.

 

    Ungehörig ist es auch, Reisende am Einsteigen zu verhindern, indem man ihnen zuruft, daß alles besetzt sei, wenn noch einer oder der andere Platz frei ist; oder wenn sich in solchem Fall mehrere Insassen am Fenster aufstellen, um damit die bereits eingetretene Überfüllung des Coupés anzudeuten. Töricht handelt derjenige, welcher sich dadurch abschrecken läßt und sich nicht von der Richtigkeit überzeugt, denn das kann ihm bei jedem Wagen passieren, so daß schließlich die Wartezeit des Zuges abläuft, dieser davondampft und den zaghaften Reisenden zurückläßt. Man lasse sich bei großem Andrang überhaupt auf eigene Versuche garnicht ein, sondern wende sich an den Schaffner, der dafür sorgen wird, daß alle solche Ungehörigkeiten fruchtlos verlaufen und man einen Platz findet und vielleicht sogar noch einen verhältnismäßig guten. Eine Platzwahl ist bekanntlich nur in den D-Zügen möglich, für welche Bequemlichkeit man freilich extra zu zahlen hat; dafür ist man aber auch der Schererei des mühsamen und aufregenden Paltzsuchens überhoben und kann den Platz während der Fahrt beliebig verlassen, ohne besorgen zu müssen, daß derselbe von einem anderen besetzt wird.

 

    Auf der Reise hat man sich stets so zu benehmen, daß man den Mitreisenden in keiner Weise lästig wird. Man hat anständig zu sitzen, die Beine nicht in der Weise auszustrecken, daß sie dem Gegenübersitzenden unbequem werden, nicht die Füße auf die gegenüberliegende Bank zu legen, wenn dort der Platz frei ist, sich nicht derart anzulehnen, daß man beim Rütteln des Wagens gegen den Nachbar fällt u. dergl. mehr. Vor allen Dingen soll man nicht ungeniert um sich herum ausspeien, eine allerdings so allgemeine Unsitte, daß dagegen in den Wagen sowohl wie auf den Bahnhöfen sogar Verbote haben angeschlagen werden müssen. Ist übergenug Raum im Wagen, dann mag es sich jeder so bequem machen. wie es Umstände und Schicklichkeit erlauben. Was Herren sich allenfalls untereinander gestatten dürfen, das kann unschicklich sein, sobald einen Dame zugegen ist. Die Einrichtungen sind allerdings so getroffen, daß die Geschlechter getrennt reisen können, und den Damen würde immer zu raten sein, möglichst nur Frauencoupé zu fahren, besonders wenn zur Fahrt auch die Nacht benötigt wird, denn Damen sind untereinander ebenso ungenierter wie Herren unter sich. Allerdings läßt sich eine solche Trennung nicht immer streng durchführen, besonders bei starkem Verkehr, wo die vorgeschriebene Wartezeit des Zuges durch die Unterbringung von Personen und Gepäck vollauf in Anspruch genommen wird; es wird da wohl manche Dame zufrieden sein müssen, wenn sie in einer Abteilung für Nichtraucher unterkommt. Sie darf ja dann erwarten, daß auf sie von den anwesenden Herren in jeder Weise Rücksicht genommen wird. -

 

    Wenn oben gesagt wurde, daß auf der Reise jeder sich selbst der Nächste sei, so ist das selbstredend nicht so zu verstehen, als ob man damit jeder Rücksicht gegen andere entbunden wäre. Es soll nur heißen, daß man zunächst nur für sich selbst und seine Sachen zu sorgen hat, damit man nicht in Verlegenheiten, Verdrießlichkeiten, Ungelegenheiten gerate, was auf der Reise nur allzuleicht eintreten kann. Im übrigen aber darf man nicht vergessen, daß man sich in der Gesellschaft anderer befindet und jeder Mensch die Ansprüche zu machen hat, wie solche unter den Gebildeten als gute Lebensart in Geltung stehen, und wie wir sie in den vorstehenden Abschnitten unseres Buches von Fall zu Fall gekennzeichnet haben. Diese überall, wo wir mit Menschen zusammenkommen, herrschenden allgemeinen Regeln des guten Tones können auch auf der Reise nicht suspendiert werden, sondern behalten auch hier ihre volle Gültigkeit; namentlich Damen gegenüber sind sie nie außer Augen zu setzen. Man sollte das eigentlich für selbstverständlich halten, und doch sieht man auf der Reise recht oft, wie unhöflich sich manche Menschen auch gegen Damen verhalten. So wenig auch gar manche der selbstsüchtigen Sitten der Amerikaner, wenn sie unter sich sind, nachahmenswert erscheinen, so kann man sich doch in diesem Fall gerade an ihnen ein Beispiel nehmen, denn gegen ein weibliches Wesen nicht höflich, nicht in jeder Weise rücksichtsvoll zu sein, ist bei Amerikanern undenkbar. Ein gebildeter Mann wird einer Dame beim Einsteigen behilflich sein, ihr das Handgepäck abnehmen, damit sie es leichter hat, dazu die Hand reichen, damit sie sich stützen kann; er wird ihr bei der Unterbringung ihres Gepäcks im Coupé zur Hand gehen, ihr zu einem bequemen Sitz verhelfen, einen besseren Platz einräumen; beim Aussteigen wird er ihr das Gepäck wieder abnehmen, damit sie den Wagen mühelos verlassen kann, und  ihr dann ihre Sachen hinausreichen und was dergleichen Dinge mehr sind.

 

    Den Damen dagegen ist zu empfehlen, solche Aufmerksamkeiten dankbar anzunehmen und nicht, wie es häufig vorkommt, als Aufdringlichkeit zu betrachten. Es gibt Damen, die jede Hilfeleistung, welche ihnen ein Herr angedeihen lassen will, nicht etwa dankend ablehnen, sondern als zudringliche Ungehörigkeit brandmarken und wohl gar noch Lärm darüber schlagen. Es  soll nicht bestritten werden, daß es Männer gibt, die nur zu gern mit jeder Damen anbandeln und auch zudringlich werden; dergleichen aber sofort in jedem zu sehen, der aus gutem Herzen und Taktgefühl einer Dame hilfreich sein will, ist eine törichte Prüderie, die auf der Reise nicht am Orte ist. Zudringliche Patrone von nur hilfsbereiten Männern zu unterscheiden, dazu gehört mehr Menschenkenntnis, als sie Damen im allgemeinen besitzen, zumal junge Damen. Diese sollten daher nie anders reisen, als im Frauencoupé, auch nicht im Coupé für Nichtraucher, denn ihnen fehlt die Erfahrung, wie in den meisten Fällen erst das Benehmen der Damen den Herren das ihrige vorschreibt. Ältere Damen haben weniger zu besorgen, weil die aus Erfahrung gewonnene Sicherheit ihrer Haltung allein schon ein Schutzmittel gegen etwaige Zudringlichkeit ist.

 

    Eine Abart der Zudringlichkeit ist die Neugier. Es gibt Menschen, denen es förmlich das Herz abdrückt, wenn sie nicht möglichst rasch von ihrem Reisenachbar das Wer? Was? Woher? Wohin? erfahren haben, und die mit ihren Fragen nach solchen persönlichen Verhältnissen überaus lästig werden können, denn es hat selten jemand den Mut, einem solchen lästigen Nachbar deutlich zu verstehen zu geben, daß ihn das nichts angeht. Meist sind das Leute, die nicht viel reisen und die da meinen, in der ganzen Welt müsse es so sein, wie daheim in ihrem Posemuckel, wo sie ja auch die persönlichen Verhältnisse jedes einzelnen Menschen kennen."Wer viel reist," sagt Adalbert Stifter sehr schön, "der lernt schon die Menschen schonen und läßt sie in dem inneren Haushalt ihres Lebens gewähren, der sich nicht aufschließt, wenn es nicht freiwillig geschieht." Neugierige Menschen geben auch sich selbst in der Regel nur zu freiwillig, sie setzen bei jedem Menschen dasselbe Interesse für die Verhältnisse anderer voraus, was sie empfinden, und man muß alsbald ihre ganze Lebens- und Familiengeschichte bis zum Urgroßvater, ihr ganzes Tun und Treiben anhören, wird mit ihrem Reiseziel, Reisezweck u. s. w. u. s. w. unfreiwillig bekannt gemacht, und selbst die äußerste Zurückhaltung pflegt an dieser Mitteilsamkeit abzuprallen. Eine andere Unterhaltung ist mit solchen Reisenachbarn gar nicht möglich, über persönliche Verhältnisse geht ihr Interesse nicht hinaus. Nur zu häufig erreichen sie aber dennoch, wenigstens teilweise, ihren Zweck, da dem andern auf ihre beständigen indiskreten Frage unwillkürlich doch diese und jene Antworten entschlüpfen. Die pure Neugier eines Menschen zu befriedigen haben wir aber doch gar keine Veranlassung, ebenso haben aber auch wir jede Frage, die als Neugier gedeutet werden könnte, zu unterlassen. Allenfalls nach dem Reiseziel dürfen wir fragen, nicht aus Neugier, sondern weil es möglich ist, daß der Nachbar daselbst besser bekannt ist, als wir, und wir von ihm uns dann mancherlei Winke und Ratschläge erbitten können; oder es kann auch der umgekehrte Fall eintreten, daß wir dem Nachbarn mancherlei Nachweise über den ihm weniger bekannten Ort geben können. Im weiteren gehen uns die Person des Reisegefährten, seine Zwecke, Ziele u. s. w. nichts an.

 

    Auf der Reise völlige Zurückhaltung beobachten, ganz zu schweigen und jede von einem anderen versuchte Unterhaltung ablehnen, wäre einfach töricht. Unterhaltung ist stets erlaubt, denn sie hilft über die unvermeidliche Langeweile einer stundenlangen Fahrt hinweg. Nur soll sie sich immer um Dinge drehen, die jeder hören kann. Selbst unter Bekannten müssen Personen oder Sachen, die diskreter Natur sind, vermieden werden. Wenn das nicht geschieht, so kann man in die unangenehme Verlegenheit geraten, denn wer steht dafür, daß nicht ein anderen Nachbar, der das zufällig hört, ein guter Freund oder Verwandter von der Person ist, die da mitgenommen wird, oder den Sachen, über die verhandelt wird, näher steht und sich dann gedrungen fühlt, sich in das Gespräch zu mischen, um leeres Gerede oder falsche Gerüchte richtig zu stellen.

 

    Schon aus diesem Grunde soll man es sich zur Regel machen, für den Fall, daß sich ein solches Gespräch nicht vermeiden läßt, wenigstens keine Namen zu nennen; ein Name kann jemand, der denselben zufällig kennt und bisher gar nicht auf das Gespräch achtete, aufmerksam machen, so daß er nunmehr dem,. was da gesprochen wird, seine Aufmerksamkeit zuwendet. In dieser Beziehung macht man gar oft die Erfahrung, daß besonders Damen recht unvorsichtig zu sein pflegen. Selbst wenn augenblicklich niemand sie in ihren Herzensergießungen stört und sie der Überzeugung sind, daß sie ihre Meinungen ganz diskret ausgetauscht haben, kann es gar leicht geschehen, daß die Unananehmlichkeiten später hinterher kommen, da einen  andere Dame in ihrer Nähe saß, die das alles hat mit anhören müssen, die betreffenden Personen aber kannte und dann später kein Hehl aus dem Gehörten machte. Wozu das auch alles? Gibt es nicht sonst Stoff genug zur Unterhaltung auf der Reise? Und wenn es nichts anderes wäre als die Landschaft, welche man durchfliegt, deren Vergleichung mit anderen Gegenden und Ländern, die man schon kennen gelernt hat, sich daran knüpfende Reiseerlebnisse u. dergl., so gibt das doch übergenug Stoff, um ein paar Stunden angenehm plaudern und sich Unannehmlichkeiten, wie wir sie andeuteten, füglich ersparen zu können.

 

    Eine recht lästige Reisegesellschaft bilden die Eisenbahnschläfer. Wenn jemand die Nacht hindurch fährt und nicht für einen besonderen Schlafwagen hat bezahlen können, oder wenn jemand seine Fahrt nur hat antreten können, indem er zu Hause die notwendige Nachtruhe abkürzen mußte, nun, dann nimmt man es ihm wohl nicht so übel, wenn ihn im Coupé schließlich die Müdigkeit überwältigt, denn der Körper will sein Recht haben. Es gibt aber Leute, denen das Schlafen im Eisenbahnwagen reine Gewohnheitssache ist; sie haben sich im Coupé kaum eingerichtet, so suchen sie auch sofort eine möglichst bequeme Lage zu gewinnen, um die Augen schließen und schlafen zu können. Solche Passagiere können durch ihr unaufhörliches Hin- und Herfallen den Mitreisenden überaus lästig werden und müssen sich infolgedessen auch mancherlei unangenehme Bemerkungen gefallen lassen. Wer da weiß, daß er an solch unüberwindlicher Schlafsucht leidet, der möge sich einen Eckplatz zu verschaffen suchen, in dem er sich bequem hineindrücken kann. Wer sich aber gar selbst als Schnarcher kennt, der möge den Schlaf unter allen Umständen zu bekämpfen suchen, denn während der Reise jemand fortwährend schnarchen zu hören, gehört mit zu den unleidlichsten Begegnissen.

 

    Auch Beschäftigung im Eisenbahnwagen ist nicht so gleichgültig, wie es viele zu halten scheinen. Da ist zunächst das Essen. Daß im Coupé mitgenommene Vorräte verzehrt werden, ist natürlich, denn nicht jeder Zug führt einen Speisewagen mit sich, nicht jeder Zug hält so lange, daß man aus der Restauration sich mit Speise und Trank versorgen könnte, und die an dem Zuge auf und ab laufenden Kellner sind oft so stark in Anspruch genommen, daß man nichts erlangen kann. Diese Erfahrungen führen dazu, daß man für den ersten Notbehelf durch Mitnahme eines Imbisses selbst sorgt. Dabei zeigt sich dann ziemlich deutlich, auf welcher Stufe der Lebensart die Reisenden stehen. Ein gebildeter Mensch hat sein Butterbrot sorgfältig in sauberes Papier geschlagen und zum augenblicklichen Verzehr vorbereitet, so daß er eben nur die Bissen zum Munde zu fühtren braucht und so anständig zu essen vermag, wie es unter gebildetetn Leuten Sitte ist. Auf der Reise kann man erleben, wie nirgend sonst, was Unmanierlichkeit beim Essen bedeutet. Wer, der viel reist, wäre nicht schon Zeuge gewesen, wenn eine Dame das Taschentuch über ihren Schoß breitet, darauf das aus der Reisetasche hervorgekramte, in Zeitungspapier gewickelte Frühstück legt, dann sich von dem Herrn Gemahl dessen Taschenmesser geben läßt, Bissen für Bissen abschneidet und nach Beendigung dieses Diners Messer und Finger an dem Taschentuch abwischt. Wer hätte nicht schon gesehen, wie sich der Herr Gemahl und auch noch die Tochter desselben Messers bedienen, immer abwechselnd. Solch Frühstück mit ansehen zu müssen, ist keineswegs appetitanregend.

 

    Auch das Kartenspiel im Eisenbahnwagen ist eine Beschäftigung, mit der die eifrigen Skatbrüder lästig werden können. es sind dies sehr häufig Geschäftsreisende, die sich zufällig zusammengefunden haben und nicht wissen, was sie mit der Zeit der Fahrt anfangen sollen. Unterhalten können sie sich in den wenigsten Fällen, denn ihr Geschäft, über das sie häufig einzig und allein zu sprechen verstehen, ist ein Gegenstand, den sie vor einandner sorgfältig vermeiden, und es ist manchmal für die Mitreisenden äußerst belustigend, zu beobachten, wie einer den anderen diebezüglich hinter das Licht zu führen sucht, aus Furcht vor etwaiger Konkurrenz. Da ist dann ein Spiel Karten, das einer oder der andere dieser Herren immer bei der Hand hat, der Tröster in der Langeweile, ein Reisekoffer oder ein Plaid, über die Kniee gelegt, bildet den Tisch, und die Spieler genieren sich hier so wenig wie in einem öffentlichen Lokal vor den anderen Leuten, und nach jeder Runde gibt es laute und heftige Auseinandersetzungen, daß man meint, nun sei es doch sicher zu Ende. Aber nein, unverdrossen wird weiter gedroschen. Im Rauchercoupé, wo nur Herren unter sich sind, möchte es noch angehen, da werden die Skatspieler höchst wahrscheinlich sogar ebenso eifrige Zuschauer finden.  Niemals aber sollte es geschehen, wenn Damen anwesend sind, und daß gar Damen sich im Eisenbahnwagen daran beteiligen, halten wir ganz für ausgeschlossen.

 

    Rauchen ist selbstverständlich nur in denjenigen Wagenabteilen gestattet, die für Raucher besonders bezeichnet sind. Hier kann jeder rauchen, so viel er will, hat auch nicht nötig, was anderswo unbedingt geboten wäre, eine etwa anwesende Dame um Erlaubnis zu bitten, ob er sich eine Zigarre anbrennen dürfe. Damen im Rauchcoupé? Gewiß, das kommt oft genug vor, aus irgend einem Grunde, z. B. dem Gatten zuliebe, der als leidenschschaftlicher Raucher eine Eisenbahnfahrt ohne Zigarre gar nicht aushalten würde; oder auch aus gar keinem Grunde weiter, als daß nirgend sonst Platz gewesen ist oder rein aus Versehen. Aber auch in solchen Fällen darf die Dame sich nicht beklagen oder beanspruchen, daß das Rauchen ihretwegen eingestellt werde; sondern sie hat, so lästig ihr auch der Dampf sein sollte, die Unbequemlichkeit ruhig hinzunehmen und kann sich nur auf den Schaffner verlassen, der ihr bei einem Aufenthalt einen anderen Platz besorgen wird.

 

   Daß die Dame deshalb in ein Rauchcoupé einsteigt, weil sie sich selbst zu den Rauchern zählt, wollen wir nicht annehmen, denn das ist bei uns nicht Sitte, wird es hoffentlich auch nie werden. Rauchende Damen mögen in Paris, in Rußland, in Spanien oder sonstwo zu den gewöhnlichen Erscheinungen gehören, bei uns steht man allgemein auf dem Standpunkt, daß für eine in der Öffentlichkeit rauchende weibliche Person die Bezeichnung Dame zweifelhaft werden kann. Den Grund dafür kann man freilich nicht so recht angeben, denn was einem Herrn angeblich einen so großen Genuß gewährt, warum sollte dessen nicht auch einer Dame teilhaftig sein können? Daß das Rauchen nur ein eingebildeter Genuß ist, beweisen die vielen Nichtraucher, die augenscheinlich durchaus nichts entbehren, daß sie dem narkotischen Kraut nicht huldigen, beweisen auch die Raucher selbst, die unter Umständen viele Stunden auch ohne Zigarre auskommen können, ohne das Verlangen danach als Unbequemlichkeit zu empfinden. An eingebildeten Genüssen herrscht aber bei Damen ja sonst schon kein Mangel, wozu also noch dieser für Damen wirklich unschöne Gebrauch? Der Tonpfeifenstummel im zahnlosen Munde eines alten Weibes gehört mit zur Charakteristik malerischer Studienköpfe, aber an der feinen Zigarette oder gar an der Zigarre zwischen den Lippen einer Dame nimmt man allgemein Anstoß, und wahrlich nicht mit Unrecht.

 

    Da das Rauchen in den Wagenabteilen für Nichtraucher verboten ist, so wäre es unschicklich, ein solches Coupé überhaupt mit brennender Zigarre zu betreten, denn wenn der Herr nun auch nicht raucht, so geht die Zigarre doch nicht sofort aus, sondern glimmt noch eine Zeitlang weiter, und der Raum füllt sich dennoch mit Rauch, der hier ja eben nicht geduldet werden soll. Es ist daher schicklich, die Zigarre zu entfernen, bevor man das Coupé betritt. Geradezu ungezogen aber ist es, wenn ein Herr sich erlaubt, trotz des Verbotes verstohlen weiter zu rauchen, in der Voraussetzung, daß es nicht bemerkt wird, oder wenn er sich in der Nähe des Fensters postiert oder dieses selbst in Beschlag nimmt, sich hinauslehnt und nun gemütlich weiter pafft. Für die Einrichtung der gänzlichen Trennung der Wagenabteile sind der Bahnverwaltung ungezählte Tausende dankbar, und wer das Rauchen durchaus nicht entbehren kann und unglücklicherweise in ein Coupé für Nichtraucher geraten ist, der muß sich bis zur nächsten Haltestelle bezähmen und dann zusehen, daß er den Platz wechseln kann. Wer seiner Gattin zuliebe als Nichtraucher fährt, auf langer Fahrt jedoch dem Verlangen nach der geliebten Zigarre nicht widerstehen kann, nun, der darf ja beliebig ab und zu auf einer Haltestelle umsteigen und sich eine Strecke weit in ein Rauchercoupé begeben. Das ist erlaubt. Nicht erlaubt aber ist, sich im Nichtrauchercoupé eine Zigarre anzuzünden, selbst wenn die sonst Anwesenden nichts dagegen haben sollten. Abgesehen von dem Rauch teilt sich der Geruch den Polstern mit und ist sobald nicht wieder zu entfernen. das eben soll vermieden werden, schon der nachfolgenden Passagiere wegen.

 

    Viele von den im vorstehenden erwähnten Mängeln werden nicht eintreten bei einem Reisenden, der einfach die Höflichkeit nicht aus den Augen setzt, denn sie ist und bleibt unter allen Verhältnissen eine der Grundregeln des Verkehrs mit anderen Menschen. Ein höflicher Mann wird überall ein wohlwollendes Entgegenkommen finden, ganz besonders in Fällen, wo viele meinen, Höflichkeit nicht nötig zu haben. Ist es denn z. B. eine so große Aufgabe, beim Einsteigen in einen Eisenbahnwagen den üblichen Tagesgruß auszusprechen, was man doch sonst alle Tage oftmals tut? Und doch unterlassen es viele, namentlich Großstädter, weil sie eine Begrüßung fremder Leute für überflüssig halten, wie sie aus ihrem täglichen Lben in der Großstadt mehr oder weniger gewöhnt sind. Und doch ist es nicht zu leugnen, daß der Gruß unwillkürlich das Gefühl erweckt: es ist ein höflicher Mensch eingestiegen. Und wenn diese Höflichkeit dann beim Niedersitzen, bei Unterbringung des handgepäcks u. s. w. fortgesetzt wird, so ist es zweifellos, daß man damit viel weiter kommt und viel besser fährt, als ohne diese.

 

    Diese Erfahrung macht jeder, der viel reist, und sie bewährt sich auch den Eisenbahnbeamten gegenüber, vom Stationsvortseher herunter bis zum Gepäckträger. Eine höfliche Frage wird immer eine entsprechende Antwort finden, einer höflichen Bitte immer Gewährung werden, wenn es überhaupt in der Macht des Beamten liegt, was allerdings nicht immerb der Fall ist und dann unverständige Reisende wohl gar zu förmlichen Ausschreitungen hinreißt.

 

    Bei der Besorgung des Gepäcks durch Packträger oder Dienstmänner gibt auch ein kleines Trinkgeld der Bitte noch besonderen Nachdruck, was sich namentlich Damen merken mögen, die in dieser Beziehung in der Regel sparsamer zu sein pflegen, als die Klugheit ratsam erscheinen läßt. Der Reisende hat stets zu wünschen, wenn er klug ist, nicht zu befehlen. Die Beamten sind zwar seinetwegen da und sind auch verpflichtet, ihm Rede zu stehen, aber wie man in den Wald hineinschreit, so schallt es heraus, sagt das Sprichwort, und wenn ein Reisender bis zuletzt warten muß, ehe er bedient wird, so trägt er nur zu häufig selbst die Schuld daran. Mit dem Hut in der Hand kommt man durchs ganze Land, ist ein altes, sehr wahres Sprichwort, das sich auch auf Reisen noch stets bewährt hat.

 

aus: "Der Ratgeber für den Guten Ton in jeder Lebenslage"

von Dr.Franz Albrecht, Verlag von W. Herlet, Berlin W. 35; Postdamerstraße 113

aus dem Jahre 1910

Axel Strell | Alle Rechte vorbehalten, Copyright 10/2009